Ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, ein Musical zu besuchen, bis ich 36 Jahre alt war. Facebook zeigte mir in der Timeline immer wieder den Trailer des Musicals HAMILTON. Ich hatte zwar keine Ahnung, worum es in diesem Musical ging, aber rappende BIPoC auf der Bühne zu sehen, weckte mein Interesse.
Jetzt weiß ich, wer Alexander Hamilton ist, denn ich habe mir das Musical mittlerweile zweimal angesehen. Er ist einer der sieben Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika und war unter George Washington der erste Finanzminister. Sein Porträt ist auf der 10-Dollar-Banknote zu sehen. Außerdem verfasste Hamilton maßgeblich die Federalists Papers, um die junge Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen.
Dass Alexander Hamilton bis zur Staatsspitze aufsteigen sollte, hätte er in seiner Kindheit wahrscheinlich selbst nicht gedacht: Aaron Burr, unter Thomas Jefferson der dritte Vizepräsident der Vereinigten Staaten, einstiger Freund und späterer Mörder Hamiltons, singt im Musical über ihn:
Wie wird so ’n Bastardbalg, der bloß aus dem Schoß einer Dirne kroch
Aus ’nem gottverdammten verlor’nen Loch in der Karibik
Ohne Titel, ohne Mittel, ohne Werte
Am Ende doch ein Held und ein Gelehrter?
Alexander Hamilton war ein uneheliches Kind und wuchs auf der Karibikinsel Nevis in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 14 Jahren ist er mithilfe eines Stipendiums in die heutigen Vereinigten Staaten von Amerika eingewandert. Er studierte in Princeton, machte Karriere als Kriegsherr, anschließend zog es ihn in die Politik. Ökonomisch stieg Hamilton ebenfalls auf, indem er Elizabeth Schuyler heiratete, die Tochter eines wohlhabenden Generals.
Hamiltons verarmte Kindheit motivierte ihn, zeit seines Lebens, einen gesellschaftlichen Aufstieg hinzulegen. So rappt er im Musical:
Mann, ich hab‘ nur diesen einen Schuss
Bin wie mein Land voll am Starten
Bin jung, scharf und geladen
Und ich hab‘ nur diesen einen Schuss
Hamiltons Einstellung ist typisch für Einwanderer*innen, die häufig hoch motiviert sind. Ein prominentes Beispiel ist der damalige US-Präsidenten Barack Obama, dessen Vater mithilfe eines Stipendiums als erster afrikanischer Student in den USA studiert hat, erst an der University of Hawaiʻi und dann an der Harvard University. Barack Obamas Eltern trennten sich und er wuchs bei seiner Mutter auf. Barack Obama lebte mit seiner Mutter und ihrem neuen Partner für einige Jahre in Indonesien, kehrte anschließend nach Hawaii zurück und studierte in den USA. Trotz seines Erfolgs blieb er von Rassismus nicht verschont.
Rassismus spielt im Musical auch eine wichtige Rolle, denn Hamilton gilt als Gegner der Sklaverei und so wird er auch präsentiert. Sein Ruf ist jedoch umstritten, denn Hamiltons Ehefrau, Elizabeth Schuyler, war Mitglied einer prominenten New Yorker Sklavenhalterfamilie. Diese historische Kontroverse kommt im Musical überhaupt nicht vor.
Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg gegen die damalige britische Kolonialmacht und die Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika sind die zentralen politischen Fäden im Stück. Das klingt ziemlich trocken, aber die Umsetzung ist erfrischend unterhaltsam.
Leere Hörsäle gehörten der Vergangenheit an, wenn HAMILTON Einzug in das Politikwissenschaftsstudium fände. Das ist und bleibt wahrscheinlich in den meisten Fällen eine Utopie, so wie die steile Karriere von Hamilton für die meisten Einwanderer*innen eine Utopie bleibt, denn wirtschaftlicher Aufstieg war und ist immer noch sehr stark von Bildung, Wohlstand und der Einwanderungsgeschichte abhängig.
So verhält es sich auch mit dem Besuch eines Musicals, denn Menschen mit niedrigem Einkommen fehlt häufig das Geld und der kulturelle Bezug zu Musicals. Es ist kein Zufall, dass ich mit 36 Jahren zum ersten Mal ein Musical besucht habe. Doch nicht Facebook sollte mich durch den Algorithmus auf ein Musical aufmerksam machen, sondern vor allem Schulen sind in der Verantwortung, benachteiligten Personengruppen diese Perspektive zu eröffnen.
Nicht nur vor der Bühne, sondern auch auf der Bühne sind BIPoC-Darsteller*innen häufig unterrepräsentiert oder spielen klischeehafte Rollen. Nicht im Falle von HAMILTON. Fast alle Rollen wurden mit BIPoC besetzt, obwohl die historischen Personen vor allem Weiß waren. HAMILTON ist eine Art Selbstermächtigung, denn weiße Menschen haben zwar die Historie geschrieben, aber nicht-weiße Menschen verkörpern diese nun auf der Bühne.