Volkswagen hat jüngst über Instagram ein gerade mal zehn Sekunden langes Werbevideo für den neuen Golf veröffentlicht. Darin zu sehen: ein kleiner schwarzer Mann, der von zwei überdimensional riesigen weißen Händen hin- und hergeschubst wird.
Es erscheinen Buchstaben, die für einen kurzen Moment das N-Wort bilden. Am Ende schnipst eine weiße Hand den Mann in ein Café namens „Petit Colon“. Das lässt sich leicht als Anspielung auf den Kolonialismus verstehen, denn in französischen Kolonien wurden die Kolonialisten „colon“ genannt. Eine Hand zeigt außerdem das Okay-Handzeichen, ein White-Power-Symbol. Alles Zufall?
Hunderte, wenn nicht tausende User:innen in sozialen Netzwerken haben sich daraufhin zu Wort gemeldet. Während einige im Werbevideo keinen Rassismus erkannten, prangerten viele die rassistische Reklame an.
Hat jemand verstanden, was #VW mit der rassistischen Werbung ausdrücken wollte, wenn nicht Rassismus? Ich verstehe die Botschaft überhaupt nicht. Was hat die Szene mit Autos zu tun?
— Stillbauer 🥚 (@stillbauer) May 20, 2020
Wer glaubt, das alles in der Volkswagen-Werbung sei nur Zufall, glaubt auch, dass 88 nur eine Schnapszahl ist. #vwwerbung
— Hatice Akyün (@hatice_akyun) May 22, 2020
Der Skandal um die rassistische #Volkswagen-Werbung markiert eine neue Qualität des Umgangs mit der deutschen Nazivergangenheit. Denn wie schon bei der Bundeswehr-Kampagne “Gas, Wasser, Schießen” wird die eigene Verstrickung hier bewusst zur Grundlage eines Dirty Marketings (1/4)
— max czollek (@rubenmcloop) May 22, 2020
Die Rassistische Werbung von VW war keine Zuffal oder Mangel am Aufmerksamkeit sonder Absicht
Es ist immer Absicht
— Afrontamento (@Seele_diebin) May 21, 2020
VW reagierte auf die Kritik und fühlte sich in einer ersten Stellungnahme aufgrund des Werbevideos missverstanden. Später entschuldigte sich das Unternehmen, nannte das Video „falsch“ und „geschmacklos“. Mittlerweile hat VW den Spot gelöscht. Ob sich der Autokonzern ohne Druck aus den sozialen Netzwerken auch einsichtig gezeigt hätte, ist fraglich.
Ich entschuldige mich aufrichtig als Einzelperson in meiner Funktion als Vorstandsmitglied bei Volkswagen Sales & Marketing. Hass, Rassismus und Diskriminierung haben bei Volkswagen keinen Platz! Ich werde in diesem Fall persönlich für volle Transparenz und Konsequenzen sorgen! pic.twitter.com/mlAIgrFQWs
— Jürgen Stackmann (@jstackmann) May 20, 2020
Diverse Medien griffen die Kritik auf, die sich bei Twitter sammelte. So titelte beispielsweise die Deutsche Welle: „VW erntet Shitstorm für rassistischen Werbespot.“ RTL.de sprach von einem „Riesen-Shitstorm“.
Dabei ist der Begriff „Shitstorm“ für die Kritik am Autokonzern absolut ungeeignet. Um das festzustellen, reicht ein Blick in den Duden. Das Wörterbuch beschreibt „Shitstorm“ als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht.“
Sicherlich gibt es auch die eine oder andere Beleidigung gegen den Autokonzern, die sich weder analog noch digital gehört. Aber deshalb pauschal von einem Shitstorm zu sprechen, beleidigt hunderte Internet-User:innen und disqualifiziert deren berechtigte Kritik an VW. Eine günstigere Interpretation könnte sich der Autokonzern kaum vorstellen.
Wir haben es mit einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr zu tun, die gerade bei rassistischen und sexistischen Übergriffen weit verbreitet ist. Denn wer die vielen Twitter-, Facebook- und Instagram-Nutzer:innen in der Causa VW eines Shitstorms beschuldigt, macht sie kollektiv zum Täter und VW zum Opfer. Schließlich ging der vermeintliche Shitstorm von den User:innen aus. Ursache für die Aufregung sind also die Nutzer:innen – und nicht VW und dessen Werbevideo.
Vermutlich erwecken Journalist:innen diesen Eindruck nicht bewusst. Aber: In der Medienlandschaft hat es sich leider einfach eingebürgert, virale Kritik im Netz per se als Shitstorm zu bezeichnen – vollkommen unreflektiert.
Dies war beispielsweise auch der Fall, als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eine Werbung der Deutschen Bahn bemängelte, auf der Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe zu sehen waren.
Er schrieb dazu im April 2019: „Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Deutsche Bahn die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesellschaft soll das abbilden?“
Vieler Nutzer:innen prangerten seinerzeit Palmers Wortwahl an, weil sie realitätsfern wäre und rassistische Klischees bediente. Das ZDF titelte daraufhin: „Boris Palmer: Im Auge des Shitstorms.“ Diese Schlagzeile ist nur ein Beispiel von vielen, die den Grünen-Politiker implizit als Opfer darstellten.
Aber: Weder bei Palmer noch beim VW-Video haben wir es mit einem Shitstorm zu tun, sondern mit demokratischem Protest im Netz. Weite Teile der Internetgemeinschaft haben im Falle von Palmer und VW ein gesellschaftlich relevantes Problem kritisiert: latenten bis eindeutigen Rassismus.
Die überwiegend konstruktive Kritik war aus den sozialen Netzwerken bis weit in die Gesellschaft hinein zu hören. Die User:innen haben damit die Funktion der vierten Gewalt erfüllt. Das verdient Anerkennung und keine undifferenzierte Diffamierung.
Erstveröffentlichung, Über Medien, 23.5.2020: https://uebermedien.de/49345/kritik-an-rassistischer-werbung-ist-kein-shitstorm