In persönlichen Gesprächen mit Deutschtürken war nahezu niemand in der Lage, mich über die Inhalte des Referendums zu informieren. Noch weniger konnten sie die Konsequenzen der Verfassungsänderung beurteilen. Dass der zukünftige türkische Präsident mehr Macht innehat, spielte fast keine Rolle. Stattdessen war immer wieder von hetzenden deutschen Medien und Politikern die Rede. Hinzu kamen individuelle Diskriminierungserfahrungen.
Diese Begegnungen sind natürlich nicht repräsentativ, genauso wenig, wie es im übrigen das Resultat des Referendums ist. Hierzulande haben gerade einmal um die 472.500 von insgesamt 3,5 Mio Deutschtürken mit „Ja“ gestimmt. 1,5 Mio waren wahlberechtigt. Dennoch: Die Gespräche und Stimmungen in sozialen Netzwerken sagen viel über die Wahlmotive aus. Wer hingegen die Ursachen verstehen will, muss den Blick in die Vergangenheit richten.
Max Frisch prägte diesen Satz 1965. Er spiegelt die Haltung der damaligen Mehrheitsgesellschaft, gegenüber den sogenannten Gastarbeitern wieder. Sie kamen mit ihren Träumen, kulturellen Eigenheiten, Gefühlen und nicht zuletzt mit ihrer Religion, kurzum: mit ihren allzu menschlichen Bedürfnissen. Sie wurden jedoch von weiten Teilen der Bevölkerung auf ihre Arbeitskraft reduziert. Diese Sichtweise hat bis heute ihre Spuren hinterlassen.
In Anlehnung an Max Frisch schrieb Nicolaus Fest, der frühere Vize-Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, mittlerweile AfD-Funktionär: „Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel.“ Diesen Satz haben Deutschtürken, wenige Tage vor dem Referendum registriert. Was viele hingegen vermisst haben, war ein führender deutscher Politiker, der diesen Satz deutlich verurteilt. Solch eine Geste hätte viele Wähler für Erdogans Nazivergleichrhetorik geradezu immunisiert.
Stattdessen überbieten sich nach dem Referendum in der Türkei einige Volksvertreter und Kommentatoren hierzulande. Manche fordern die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutschtürken, legen ihnen die Ausreise nahe und sprechen ihnen im selben Atemzug die Integrationsleistungen ab. Diese Rhetorik ist fatal und entspricht nicht der Realität.
Auf Seiten der Deutschtürken gibt es freilich noch Luft nach oben. Aber sie haben insgesamt über Generationen hinweg Integrationsfortschritte erzielt. Sowohl sprachlich, den Bildungsgrad betreffend, als auch ihre Teilhabe am Arbeitsmarkt. Mehr noch: Deutschtürken haben einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswunder geleistet und tragen zum gegenwärtigen Wohlstand in der Bundesrepublik bei. Und das trotz schlechter Ausgangsvoraussetzungen. Zum einen aufgrund ihrer tendenziell niedrigen Sozialschichtzugehörigkeit, zum anderen, weil die deutsche Politik das Thema Integration zu lange stiefmütterlich behandelt hat. Es ist Zeit für eine Anerkennung dieser Leistung. Das fördert die Integration. Aber auch damit ist es noch längst nicht getan.
Als der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff im Jahr 2010 sagte, dass der Islam auch zu Deutschland gehört, war der Widerstand enorm. Eine knappe Mehrheit lehnte diese Aussage seinerzeit ab. Im letzten Jahr widersprachen bereits 60 Prozent. Der Trend ist beunruhigend, angesichts von etwa fünf Millionen muslimischen Mitbürgern.
Solange die Zugehörigkeit des Islams und damit der Muslime, bis in die Mitte der Gesellschaft zur Debatte steht, wird die Desintegration einer gesamten Religionsgemeinschaft gefördert, darunter auch der Deutschtürken. Abenteuerliche Begriffe wie Menschen mit Migrationshintergrund, Zuwanderungsgeschichte oder die Nennung zweier Herkunftsländer wie Deutschtürken, ist für diese Personengruppe nichts anderes als die politisch korrekte Beschreibung von „Ausländer“.
Die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft hat die Deutschtürken besonders empfänglich für Erdogan gemacht. Er hat die Deutschtürken direkt angesprochen, ihnen Stolz aufgrund ihrer Herkunft zugeschrieben und tatsächliche Diskriminierung im deutschen Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt angeprangert. Wenn Deutschland die Herzen der Deutschtürken gewinnen möchte, gelingt dies nur, wenn sie als Deutsche anerkannt werden. Die Reduzierung der Diskussion auf den Doppelpass oder Erdogan löst keine Probleme. Es geht im Kern um etwas Grundsätzliches.
Es geht um ein neues deutsches Leitbild, welches zeitgemäß ist. Die Einheit in der Vielfalt sollte die Identität Deutschlands im 21. Jahrhundert auszeichnen. Ob jemand konservativ, traditionell oder eher hedonistisch eingestellt ist, steht jedem frei. Das betrifft auch politische Einstellungen. Sei es links-liberal oder rechts-konservativ. Ob jemand Erdogan und dessen Politik befürwortet, oder eben nicht. Wir können auf Basis der freiheitlich demokratischen Grundordnung alle deutsch sein.
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