Die Abendstunden waren bereits fortgeschritten, als ich einen muslimischen Austauschstudenten aus Indien, nach Hause begleitete. Er wohnt seit etwa einem Jahr in Essen, in einem sogenannten sozialen Brennpunkt. Während des Heimwegs von einer universitären Veranstaltung, unterhielten wir uns über Gott und die Welt, bis wir uns urplötzlich in seiner Heimat befanden, zumindest in Gedanken.
Mit einem weinenden Auge blickte er zurück, weil er seine Familie zurückgelassen hatte, aber das war schon das „Einzige“, was er vermisste. Er berichtete mir über eine unerträgliche Kriminalität, Diskriminierung, Armut und Korruption in seinem Herkunftsland. Im selben Atemzug äußerte er seine Zufriedenheit über Deutschland. Mehr noch: Er war dankbar wegen der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt aufgrund der medizinischen Versorgung.
Erst gestern traf ich einen türkischstämmigen Deutschen, dessen Bruder aufgrund eines Herzinfarkts, seit ca. drei Monaten im Krankenhaus liegt. Er wird in der Klinik behandelt, in der unsere Tochter zur Welt gekommen ist und er kämpfte ziemlich genau am selben Tage mit dem Tode, als unsere Tochter das Licht der Welt erblickte. Mit großen Augen erzählte er, dass sein Bruder nur mit der Hilfe eines medizinischen Geräts überlebt, welches wohl über 100.000€ kostet. Und er war unendlich dankbar, für diese medizinische Versorgung. Ist doch selbstverständlich. Oder? Mitnichten!
Nach diesen beiden Begebenheiten wurde mir wieder bewusster, wie gut wir es in Deutschland doch haben. Manchmal sind es die scheinbar gewöhnlichen Gespräche, welche einem wieder die Augen öffnen. Ja, auch meine Frau und ich sind dankbar dafür, dass unsere Tochter unter medizinscher Aufsicht, in Deutschland zur Welt gekommen ist. Das heißt natürlich nicht, dass wir die Entwicklung hin, zu einer zwei Klassenmedizin gutheißen.
Ferner bin ich dankbar dafür, dass meine Eltern im Jahre 1986 Asyl erhielten, als im Libanon der Bürgerkrieg tobte. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich die gegenwärtige deutsche- und vor allem europäische Flüchtlingspolitik für eine Katastrophe halte.
Wir können dankbar dafür sein – und mit wir meine ich alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – in einem Staat zu leben, wo kein Krieg herrscht. Das heißt natürlich nicht, dass wir die Augen davor verschließen sollten, wenn unsere Regierung Waffen in Kriegs- und Krisengebiete exportiert.
Wir können dankbar dafür sein, in einem Staat zu leben, wo wir unsere meine Meinung in relativ weiten Grenzen äußern dürfen. Dennoch sollten wir unsere Augen nicht davor verschließen, wenn jemand Kraft seiner Worte Hetze betreibt.
Wir können dankbar dafür sein, in einem Staat zu leben, der jedem, unabhängig der Herkunft, Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder sexueller Orientierung ein finanzielles Existenzminimum gewährleistet. Dennoch sollten wir nicht die Augen davor verschließen, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderdriftet.
Bei aller Kritik über bestehende Missstände, sollten wir nicht über die positive Seite der Medaille hinwegsehen. Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach am Tag der Deutschen Einheit mahnende Worte, welche wir uns zu Herzen nehmen sollten: „Wir leben hier in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet“.
Und er hat Recht damit. All die Errungenschaften, welche unser Land auszeichnen, mögen viele für Selbstverständlichkeiten halten, aber das sind sie weiß Gott nicht. Und genau aus dem Grund, dürfen wir uns nicht darauf ausruhen. Aber ebenso sollten wir sie stets zu schätzen wissen. Das sind wir den Vätern und Müttern des Grundgesetzes schlicht schuldig.
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