Einige Tage nach der Anschlagsserie in Paris, habe ich auf dem Campus der Uni Duisburg zwischen zwei Vorlesungen meine Mutter angerufen. Ich fragte, wie es ihr geht, was sie macht, ob alles in Ordnung sei. Üblicherweise erzählt sie mir von ihrem Alltag. Diesmal berichtete sie mir von ihrer Angst. Sie gehe heute nicht in die Moschee. „Zurzeit ist es zu gefährlich. Ich habe Angst vor einem Anschlag auf die Moschee.“
Ich musste tief Luft holen und mir eingestehen, dass ich die Gefahr eines Anschlags verdränge, wenn ich in die Moschee gehe. Ich denke an spirituellen Abenden in der Gemeinde nicht an Statistiken, wonach in Deutschland ein Anschlag auf eine muslimische Gemeinde verübt wird.
Das sagte ich meiner Mutter natürlich nicht, sondern versuchte sie zu beruhigen. Ich erinnerte sie daran, dass die Moscheegemeinde bereits seit längerer Zeit Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Der Einlass in die Moschee ist seitdem nur durch einen Türöffner möglich. Traurig aber wahr.
Daraufhin erwiderte meine Mutter: „Gerade jetzt ist es gefährlich, abends aus dem Haus zu gehen. Stell dir vor ein Nazi greift dich an.“
Auch hier musste ich wieder tief Luft holen und mir eingestehen, dass ich die Gefahr, Opfer rechtsradikaler Gewalt zu werden, im Alltag verdränge. In diesem Augenblick schossen mir Meldungen und Bilder durch den Kopf. Ich dachte an die Opfer des NSU, an den Tod von Marwa-Al-Sherbini, die mitten in einem deutschen Gerichtssaal ermordet wurde. Und ich dachte an all die Übergriffe auf Flüchtlinge in den letzten Tagen und Wochen.
Auch das sagte ich meiner Mutter nicht. Ich entgegnete, dass wir uns in einer Großstadt wie Essen keine Sorgen machen müssten. Schließlich leben wir nicht im Osten der Republik. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, denn Rechtsextremismus ist auch im West ein Problem.
Schließlich entgegnete mir meine Mutter mit besorgter Stimme: „Stell dir vor es gibt in Deutschland einen Terroranschlag, wie in Paris. Terroristen unterscheiden nicht nach Herkunft und Religionszugehörigkeit. Jeder ist in Gefahr.“
Erneut musste ich tief Luft holen. Irgendwie musste ich ihr die Ängste nehmen. Hilflos sagte ich, dass die Gefahr von einem Auto überfahren zu werden, höher ist, als die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terrorangriffs zu werden. Etwas Besseres war mir nicht eingefallen.
Am Abend fuhr ich mit einem Kommilitonen nach Hause. Wir unterhielten uns natürlich auch über die Pariser Anschläge. Wir kamen auf die allgemeine Verunsicherung zu sprechen, auf die Ängste in unseren Familien. Er ist gebürtiger Deutscher und erzählte mir von den Ängsten seiner Mutter, vor einem Anschlag in Deutschland.
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http://www.migazin.de/2015/11/27/gemeinsame-aengste/